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disKURSwechsel :: alternativen

30 Stunden sind genug

junge Welt vom 10.08.2004
Arbeit – Arbeitszeit – Arbeitszeitverkürzung. Ein Plädoyer für einen gesellschaftlichen Aufbruch gegen das Abbruchunternehmen Kapitalismus

Winfried Wolf

Werden die aktuellen Arbeitslosenzahlen nur vorsichtig um die jüngsten statistischen »Beschönigungen« bereinigt, so steigt derzeit die Massenerwerbslosigkeit weiter – trotz eines bescheidenen Wirtschaftswachstums. Die Massenerwerbslosigkeit ist mehr denn je das zentrale gesellschaftliche Thema und der wichtigste Faktor, der die Kräfte, die für Demokratie, für gesellschaftliche Emanzipation und für Sozialismus eintreten, schwächt.

Die Hartz-IV-Gesetze spitzen diesen zersetzenden Prozeß nochmals zu. Jeder Noch-Beschäftigte hat vor Augen, in welche soziale Tiefen er fallen kann. Hunderttausenden Erwerbslosen droht ein Verelendungsprozeß. Den Bossen eröffnen sich immer neue Möglichkeiten, Beschäftigte zu längeren Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich zu zwingen – womit erneut die Arbeitslosigkeit steigt. Die Chancen, Erwerbslose gegen »Arbeitsplatzbesitzer« auszuspielen, erhöhen sich.

 

Wir erleben damit neue und für Gewerkschaften und Linke gefährliche Spaltungen der Gesellschaft – Spaltungen, die die wahre Spaltung in Klassen überdeckt. Wer derart in der Defensive steht und immer neu – wie einige Gewerkschaftsführungen – nachgibt, wird eine Spirale der Schwächung auslösen und immer mehr Mitglieder verlieren – was zu neuem Verzichtsdenken Anlaß geben kann.

Europaweite Kampagne

Der aktuelle Kapitalismus wird »aus sich heraus« die Schwäche der Gewerkschaften gnadenlos ausnutzen. Es wird keinen Trend zurück zu mehr Beschäftigung geben – ganz im Gegenteil. Umgekehrt müssen die Linke, die Gewerkschaften und Erwerbsloseninitiativen ein eigenes Projekt entwickeln und dies mit der Kampagne »Nein zu Hartz« und den neuen Montagsdemos verknüpfen. In dieser Situation könnte eine breitangelegte Kampagne für eine weitreichende Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich Beschäftigten und Arbeitslosen eine Perspektive weisen und aus der Defensive herausführen. »Weitreichend« meint z. B. eine Reduktion der Arbeitszeit von derzeit real im gesamtdeutschen Durchschnitt rund 38 Stunden auf 30 Stunden oder um rund 20 Prozent. Eine solche Kampagne müßte von vornherein auf eine europaweite Arbeitszeitverkürzung zielen.

Heinrich von Pierer (Siemens) und Jürgen Schrempp (DaimlerChrysler) machen derzeit Schlagzeilen. Ihnen gelang die Erpressung ihrer Belegschaften – die Durchsetzung von längeren Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich. Das macht aus Sicht des Kapitals seit Jahrhunderten Sinn.

Da allein menschliche Arbeit Werte und Reichtum schafft und Grundlage des Heißhungers nach Profit und Profitmaximierung ist, besteht seit Existenz des Kapitalismus die zentrale Frage in dem Dreiklang: Wie viele Menschen in absoluter Zahl kann das Kapital ausbeuten (Zerstörung von Subsistenzwirtschaften – z. B. mit der EU-Osterweiterung in der polnischen Landwirtschaft)? Wie lange kann der individuelle Arbeitstag – also die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft – ausgedehnt werden (theoretisch liegt die Grenze bei 24 Stunden)? Wie viel oder besser wie wenig muß dafür an Arbeitslohn (v) gezahlt werden oder wieviel des Werts, der an einem Arbeitstag geschaffen wird, kommt als Mehrwert (m) direkt dem Kapital bzw. den Kapitaleignern zugute (der Angriff der Bosse auf die Arbeitszeit erfolgt nicht wegen niedriger Profite, sondern auf Basis hoher Gewinne. Genug ist eben nicht genug, sondern macht heißhungrig.

Es liegt nahe, den Kampf zur Arbeitszeitverkürzung in seinem historischen Kontext zu sehen. Dieser Kampf durchzieht die Geschichte der Arbeiterbewegung bei gleichzeitigem Kampf um einen als »angemessen« erscheinenden Arbeitslohn. Und das ist zusammen immer ein Kampf zur Begrenzung der Ausbeutung in Zeit und Wert. Marx legte dar, daß »die Festsetzung eines normalen Arbeitstags das Resultat eines vielhundertjährigen Kampfs zwischen Kapitalist und Arbeiter« ist. Er beschrieb diesen Kampf in seinem Hauptwerk »Das Kapital«, Band 1, Kapitel VII »Der Arbeitstag«, derart plastisch, daß die Lektüre immer wieder neu Sinn macht.

Es gab den jahrzehntelang andauernden Kampf in England um die Zehn-Stunden-Bill, dessen Teilerfolge in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gesetze gegossen wurden. Es gab den Kampf in Nordamerika um den Achtstundentag, der bereits 1866 auf dem allgemeinen Arbeiterkongreß von Baltimore in klassischer Weise formuliert wurde: »Das erste und große Erheischnis der Gegenwart, um die Arbeit dieses Landes von der kapitalistischen Sklaverei zu befreien, ist der Erlaß eines Gesetzes, wodurch acht Stunden den Normalarbeitstag in allen Staaten der amerikanischen Union bilden sollen.« Es gab die Achtstundengesetzgebung nach der Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Und es gab den Kampf für Arbeitszeitverkürzung nach dem Zweiten Weltkrieg: in Westdeutschland zunächst (in den fünfziger Jahren) mit der Kampagne um die Fünftagewoche (mit dem patriarchalen Slogan »Samstags gehört Papa mir!«) und in den achtziger Jahren mit der Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Obgleich die dann erzielten Beschlüsse zur 35-Stunden-Woche aufgeweicht und deren Umsetzung über eine viel zu lange Zeit ausgedehnt wurde, sei festgehalten: Im Zeitraum 1974 bis 2004 gab es nur eine einzige Periode, in der die Massenerwerbslosigkeit in Westdeutschland über fünf Jahre hinweg nicht mehr stieg, sondern sogar deutlich sank – das waren die Jahre, die auf die Umsetzung der 35-Stunden-Woche folgten. 1986–1988 stagnierte die offizielle Arbeitslosenzahl in der BRD bzw. in Westdeutschland bei 2,2 Millionen.1989 sank sie auf 2,037 Millionen, 1991 nochmals auf 1,689 Millionen. Seit 1992 steigt sie erneut an.

Zentrale Frage: Lohnausgleich

Es erscheint kühn, heute das Thema Arbeitszeitverkürzung als aktuell zu bezeichnen. Tollkühn mag es anmuten, dann auch noch für einen Lohnausgleich zu plädieren. Statt dessen wird argumentiert, eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich – also bei Einkommensverzicht – sei angesichts der Kräfteverhältnisse und der finanziellen Umstände (passable Verdienste in einigen Sektoren) der geeignete Weg. Es sind drei Aspekte, weshalb dies aus meiner Sicht in eine Sackgasse führen muß.

Eine Kampagne für Arbeitszeitverkürzung mit Lohn- und Gehaltsverzicht schließt eine breite Unterstützung durch die Gewerkschaften aus. Sie ist »bündnistechnisch« fatal.

Die bisherigen historischen Kampagnen für Arbeitszeitverkürzung waren immer mit (weitgehendem) Lohn- und Gehaltsausgleich verbunden. Nie handelte es sich um Kampagnen, in denen die Gewerkschaften und Lohnabhängigen von vornherein den Kapitalisten mit dem Lockruf entgegentraten: »Für Euch soll es kostenneutral sein.« In früheren Zeiten spielte das Argument Lohnausgleich nicht die zentrale Rolle, weil nicht nach Stunden, sondern nach Arbeitstag oder Arbeitswoche bezahlt wurde – und die Forderung nach einem verkürzten Arbeitstag oder einer kürzeren Arbeitswoche automatisch einen Einkommensausgleich implizierte. In den achtziger Jahren, beim Kampf um die 35-Stunden-Woche, war das Thema Lohn- und Gehaltsausgleich allerdings zentral. Die Kampagne funktionierte erst dann, als die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung unzweideutig mit dem Lohn- und Gehaltsausgleich verknüpft war.

Eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung kann auch heute nur mit den Gewerkschaften als zentraler Kraft durchgeführt werden. Die Gewerkschaften und insbesondere die fortschrittlichen Kräfte in ihnen können für Arbeitszeitverkürzungen nur bei Lohnausgleich eintreten, weil die Höhe der Löhne und Gehälter für die große Mehrheit der Lohnabhängigen und der gewerkschaftlich Organisierten nicht den entsprechenden Spielraum für einen Lohnverzicht von mehr als 20 Prozent bietet. (Die Reduktion der Arbeitszeit von derzeit rund 38 auf 30 Stunden entspricht einer Reduktion um 21,1 Prozent). Der durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst eines Erwerbstätigen lag 2001 im Westen bei 2 817 Euro und im Osten bei 2013 Euro; davon ein Verzicht von 20 Prozent macht im ersten Fall 563 Euro und im zweiten Fall 403 Euro aus. Auf Nettobasis gerechnet sehen die Verluste noch drastischer aus. Der Verweis, es gebe Gruppen von »Gutverdienenden« überzeugt nicht. Es wird immer schwierig sein, die Grenze zwischen Schlecht-, Normal- und Gutverdienenden zu ziehen. Solche Grenzziehungen werden immer entsolidarisierende Effekte zeitigen.

Zum zweiten hat eine Kampagne für Arbeitszeitverkürzung und für 30 Stunden bei weitgehendem Lohn- und Gehaltsverzicht volkswirtschaftlich und hinsichtlich des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses kontraproduktive Auswirkungen. Sie zielt auf eine deutlich größere Zahl von Beschäftigten, von denen individuell jeder deutlich weniger als bisher an Einkommen erhielte, deren Gesamtbeschäftigung also für die Unternehmer finanziell »neutral« sein würde. Die Kaufkraft der lohnabhängig Beschäftigten bleibt also dieselbe. Dies obgleich wir mit einiger Berechtigung sagen – und obgleich die Keynesianer betonen –, die hinter der Produktion zurückbleibende Massennachfrage sei ein wichtiger Krisenfaktor. Im propagierten Modell würde es zusätzlich zu einem erheblichen Produktivitätsanstieg kommen, da die größere Zahl von Lohnabhängigen, die im Schnitt deutlich weniger arbeiteten, mit einer höheren Arbeitsproduktivität eingesetzt werden könnte. Es würde sich verstärkt um »frische Arbeitskräfte« handeln. Die dadurch erhöhte Produktivkraft mit deutlich höherem Produktionsoutput stieße noch stärker als zuvor an die Schranke der zurückbleibenden (»eingefrorenen«) Massennachfrage. Kapital würde noch mehr als bisher Anlage in spekulativen Sektoren suchen, die Orientierung auf den Export würde erhöht usw.

Geld ist genug da

Drittens schließlich würde eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung mit Einkommensverzicht völlig negieren, daß Geld genug da ist – bei den Konzernen, Banken, Unternehmen, Reichen und Vermögenden – und zwar in einem Umfang ausreichend vorhanden ist, um im Fall einer 30-Stunden-Woche einen vollen Lohn- und Gehaltsausgleich zu finanzieren.

2003 lag die Summe der Bruttolöhne und -gehälter bei 909,4 Milliarden Euro, die Summe der Nettolöhne und -gehälter bei 588,3 Milliarden Euro. Jeweils ein Fünftel davon, also der zur Debatte stehende Einkommensausgleich macht damit auf Bruttoebene 182 Milliarden Euro und auf Nettoebene 118 Milliarden Euro pro Jahr aus. Zur Debatte steht in erster Linie ein Ausgleich auf Nettoebene, also ein Ausgleich für die Einkommensbezieher, zumal der Staat und die Sozialkassen im Fall einer massiv sinkenden Erwerbslosigkeit stark entlastet werden würden.

Wenn die derzeit 33,5 Millionen abhängig Beschäftigen um ein Fünftel weniger arbeiten, benötigt man rein rechnerisch 6,7 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte. Real wären es weniger, weil es weitere Produktivitätsfortschritte gibt. In jedem Fall würde das offizielle Heer von 4,5 Millionen Erwerbslosen Beschäftigung finden. Das würde rund 100 Milliarden Euro Einsparungen an Geldern bringen, die bisher für die Finanzierung der Erwerbslosen bezahlt werden müssen (an Unterstützungen, Steuerausfällen usw.). Rechnen wir zu diesem Betrag ein paar Posten, um die allein in den letzten sechs Jahren die Unternehmen, Reichen und Vermögenden entlastet wurden, dann kommen wir auf weitere rund 50 Milliarden Euro pro Jahr, um einen solchen Lohn- und Gehaltsausgleich finanzieren zu können. Allein die jüngste Entlastung der Kapitalgesellschaften bei der Körperschaftssteuer kostet den Staat pro Jahr gut 20 Milliarden Euro, die Abschaffung der Versteuerung des Verkaufs von Unternehmensbeteiligungen kostet jährlich rund zehn Milliarden Euro, die Entlastung durch die Aufgabe der Vermögenssteuer beläuft sich auf weitere zehn Milliarden Euro pro Jahr, die Entlastung der sehr gut und Bestverdienenden durch die letzten zwei Stufen der Steuerreform brachte weitere 15 Milliarden Euro Steuerreduktion pro Jahr. Schließlich gibt es natürlich die Profite selbst, die weiterhin auf sehr hohem Niveau liegen.

Nun gibt es das Argument: Was tun, wenn es im Fall einer wirksamen Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung mit Einkommensausgleich zu einer massenhaften, flächendeckenden Kapitalflucht kommt? Droht nicht Siemens bereits heute, Betriebsteile mit rund 10 000 Beschäftigten ins Ausland zu verlegen?

Verlagerung ins Ausland?

Es ist ein ernsthaftes Argument. Allerdings besteht die Tendenz zur Kapitalverlagerung in gewissem Maß ohnehin. Sie trägt bereits zur Massenerwerbslosigkeit bei – und darauf antwortet eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung. Sodann ist festzustellen, daß die Drohungen mit Arbeitsplatzverlagerungen bloße Drohungen zwecks Erpressung sind. Die Kernbestandteile der Produktion großer Konzerne blieben bisher in der Regel im »Mutterland« des jeweiligen Unternehmens, obgleich manche »Standortbedingungen« anderswo wesentlich günstiger sind. Das hat mit dem inneren Verhältnis von Konzernen und Nationalstaat zu tun, damit, daß diese Unternehmen von »ihrem« Nationalstaat bzw. von dessen Regierung erhebliche wirtschaftspolitische Vorteile beziehen.

Bisher jedenfalls reist Siemens-Chef Heinrich von Pierer gerne mit Kanzler Schröder nach China, um fette Großaufträge an Land zu ziehen. Ob er solches auch mit dem polnischen Ministerpräsidenten tun und ob dies ähnlich effektiv sein würde, darf füglich bezweifelt werden. Des weiteren ist zu bedenken, daß die hier debattierte Kampagne für Arbeitszeitverkürzung für die gesamte EU vorgeschlagen wird. Sie zielt also auf kürzere Arbeitszeiten in einem Wirtschaftsblock ab, der nach außen durchaus über gewisse Abschottungsmechanismen verfügt. Käme es zu einer solchen Kampagne, so müßten die Arbeitszeiten in Ost- und Mitteleuropa, in Portugal und Spanien oder in Irland und Griechenland stärker reduziert werden als diejenigen in der BRD und Frankreich. Der Anreiz für Kapitalverlagerungen innerhalb der EU würde sich also tendenziell reduzieren.

Schließlich sei darauf verwiesen, daß jede historische Verbesserung, die in der Geschichte der Arbeiterbewegung und in den modernen Gesellschaften erkämpft wurde – sei es die Zehn-Stunden-Bill, sei es die Sozialversicherung, sei es die Fünf-Tage-Woche – niemals verwirklicht worden wären, hätte man auf diejenigen gehört, die mit solchen Drohungen auftraten. Es sollte bedacht werden, daß wir von einem historischen Kampf reden: Die Massenerwerbslosigkeit ist die furchtbare Geißel, die in Armut treibt, mit der die Gesellschaften zersetzt werden, die Militarismus zeitigt und neue Kriege fördert und die letzten Endes ein Überleben der menschlichen Gemeinschaft auf dem Planeten Erde in Frage stellt. Wer nein sagt zu dieser Erpressung, wer erkennt, daß der gegenwärtige Gang der Dinge in eine nicht enden wollende Spirale des Sozialdumpings, der wechselseitigen Erpressung, der Armutsproduktion in Süd, Nord, West und Ost führt, der wird früher oder später auch Grundsatzfragen aufwerfen müssen – so die Frage nach dem Eigentum an den großen gesellschaftlichen Produktions- und Finanzmitteln.

»Dumm, töricht und absurd«?

Ein Plädoyer für eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung ist also nicht ein Plädoyer für eine x-beliebige Flickschusterei. Es ist ein Plädoyer für einen gesellschaftlichen Aufbruch gegen das Abbruchunternehmen Kapitalismus. Als in der IG Metall in den siebziger Jahren für die Zielsetzung 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich geworben wurde, da bezeichneten zunächst die meisten Gewerkschaftsführer diese Zielsetzung als »unrealistisch«. Als dann Mehrheiten für diese »unrealistische Position« in der IG Metall und in anderen Gewerkschaften erkämpft waren und als die Kampagne konkret geführt wurde, da erklärte der damalige Kanzler Helmut Kohl, diese Zielsetzung sei »dumm, töricht und absurd«. Der IG-Metall-Führer Franz Steinkühler antwortete damals: »Herr Kohl hat unsere Forderung nach der 35-Stunden-Woche absurd und dumm genannt. Der Respekt vor dem Amt, das Herr Kohl innehat, hindert uns, auf dem gleichen Niveau seine Äußerung und seine Amtsführung zu werten. Aber eines sollte man doch sagen: Es wäre für Herrn Kohl noch besser, durch Schweigen den Eindruck von Unfähigkeit zu erwecken als durch Reden den letzten Zweifel zu beseitigen.«

Die Gewerkschaften konnten damals ihre Ziele weitgehend durchsetzen. Voraussetzung dafür war eine breitangelegte Kampagne und ein sehr politisches, emanzipatorisches und antipatriarchales Verständnis von Arbeitszeitverkürzung. Voraussetzung war aber auch, daß diejenigen, die diese Kampagne führten, wußten, daß der Gegner – die Unternehmerverbände, die Eigner der großen Kapitalien, die Bundesregierung – in einer breiten Kampagne frontal angegangen werden mußte. Und daß sie dabei eine deutliche, klare Sprache pflegten.

In diesem Sinne wäre eine Kampagne zur europaweiten Arbeitszeitverkürzung zu entwickeln und zu konkretisieren. Damit würde ein neues Kapitel in diesem Jahrhunderte währenden Kampf aufgeschlagen, den Karl Marx wie folgt zusammenfaßte: »Zum Schutz gegen die Schlange der Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen. An die Stelle des prunkvollen Katalogs der ›unveräußerlichen Menschenrechte‹ tritt die bescheidene Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die endlich klarmacht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet, und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt.«
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Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/08-10/003.php

Posted: Di - August 10, 2004 at 03:07 nachm.  
   
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