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Querbeet :: Sozialkahlschlag

»SPD und Grüne haben die Sozialstaatsidee beerdigt«

junge Welt vom 13.09.2005 - Interview

Ein linke Fraktion könnte zumindest Gegenöffentlichkeit schaffen. Sozialberatung »Tacheles« erwartet, daß Betroffene bald wieder auf die Straße gehen. Ein Gespräch mit Harald Thomé
Interview: Peter Wolter
 
* Harald Thomé ist Geschäftsführer der Sozialberatung »Tacheles« in Wuppertal

F: Die Ära Schröder/Fischer scheint sich dem Ende zuzuneigen. Was hat diese Zeit für Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und sonstige Arme gebracht?

Die schlimmsten Leistungsabsenkungen und sozialen Verschlechterungen seit Bestehen der Bundesrepublik. In der Regierungszeit von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Das Prinzip des Sozialstaats, in dem die wirtschaftlich Stärkeren wenigstens ansatzweise für die Schwächeren da waren, wurde unter Fischer und Schröder überwiegend abgeschafft. Die Entsolidarisierung der Gesellschaft ist schon weit fortgeschritten.

 

F: Am Sonntag wird ein neuer Bundestag gewählt. Was hätten die eben erwähnten Personengruppen von einer Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu erwarten?

Es würde keinen großen Unterschied zur bisherigen Politik von SPD und Grünen geben. Für die Betroffenen wäre es letztlich völlig gleich, ob die CDU oder die SPD den Kanzler stellt. Alternativ kann man selbstverständlich das neue Linksbündnis wählen.

F: Sie würden also einer Fraktion der Linkspartei zutrauen, Änderungen in bisherigen Sozialpolitik durchsetzen zu können?

Bis zu dem Begriff »Änderungen« will ich jetzt nicht gehen. Aber eine linke Fraktion könnte Druck machen, sie könnte Gegenöffentlichkeit ermöglichen. Sie kann einen wichtigen Beitrag zur politischen Mobilisierung gegen diesen Sozialabbau leisten.

F: Mobilisierung kann nicht aus einer Fraktion heraus organisiert werden. Wäre es nicht nötig, daß sich die Arbeitslosen, die »Hartz IV«- und Sozialhilfeempfänger selber auf die Beine machen? Viele soziale Initiativen beklagen jedoch deren Lethargie. Haben auch Sie diese Beobachtung gemacht?

Diese Frage kann man nicht eindeutig beantworten. Sicher – eine gewisse Lethargie ist durchaus festzustellen. Das konnten wir noch am vorletzten Montag, dem 5. September, beobachten. An diesem bundesweiten Aktionstag gegen »Hartz IV« hat sich leider nicht allzuviel getan. Andererseits wird immer intensiver an der Vernetzung von Initiativen gearbeitet – für den gestrigen Montag z. B. war in NRW ein Treffen verschiedener Gruppen von Erwerbslosen angesetzt. Sie wollen sich zusammenschließen und ihre Arbeit koordinieren. In vielen anderen Organisationen gibt es ebenfalls Bestrebungen, sich regional oder gar bundesweit zusammenzuschließen.

F: So mancher Arbeitslose könnte demnächst sagen: Wir haben ja jetzt die Linkspartei im Bundestag, die werden es schon richten. Da brauchen wir nicht auch noch auf die Straße zu gehen ...

Die Gefahr besteht natürlich. Aber ich denke, daß sich das Problem schnell von selbst erledigt. Die Betroffenen werden bald von sich aus wieder auf die Straße gehen – wie im Herbst vergangenen Jahres. Anlaß werden weitere Streichungen sozialer Leistungen sein, entsprechende Listen sind ja schon bekannt geworden. Es wird z. B. erwogen, die Regelleistungen weiter abzusenken, Frau Merkel sprach schon von einer 25prozentigen Kürzung.

F: Die »Hartz IV«-Gesetze sind zum 1. Januar in Kraft getreten. Ist die Zahl der Ratsuchenden bei Ihrer Sozialberatung »Tacheles« gestiegen?

Wir dürfen »Tacheles« nicht isoliert sehen, in ganz Deutschland ist die Nachfrage nach Beratung gestiegen. Das Schlimme ist jedoch, daß die wenigen Organisationen, die überhaupt kompetente und konsequente Sozialberatung anbieten können, der Nachfrage nicht mehr Herr werden. Bei uns in Wuppertal stehen manchmal 20, 30 oder gar 40 Leute vor der Tür von »Tacheles« – und das schon vor Beginn der Bürozeit.

F: Wie entwickelt sich die Wohnsituation von ALG-II-Beziehern? Wie viele mußten schon in billigere Behausungen umziehen?

Dazu gibt es leider keine Zahlen, wir sind auf Schätzungen angewiesen. Der Deutsche Mieterbund geht von 200000 Personen aus, was ich aber für zu niedrig halte. Nach meinem Überblick dürfte es sich um bis zu eine halbe Million handeln. Die Übernahme der Mietkosten für diese Menschen wird in den nächsten Monaten noch für Sprengstoff sorgen. Es sieht nämlich so aus, daß die lokalen Arbeitsgemeinschaften von Arbeitsagentur und Sozialamt bewußt die Mietkosten heruntergerechnet haben. Außerdem werden wegen der hohen Ölpreise die Heizungs- und Mietnebenkosten drastisch steigen.

F: Zeigen sich bei Ihrer Klientel schon Auswirkungen der sogenannten Gesundheitsreform?

Generell gilt: Die Leute gehen viel seltener zum Arzt, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Viele überlegen es sich fünfmal, bevor sie eine Praxis betreten, um dort dann erst einmal einen Zehn-Euro-Schein als Praxisgebühr abzulegen. Sonderausgaben wie Zahnersatz, Zahnspangen etc. sind für viele gar nicht mehr finanzierbar.

* Info: www.tacheles.de
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Adresse: http://www.jungewelt.de/2005/09-13/024.php

Posted: Mo - September 12, 2005 at 08:36 nachm.  
   
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